USA – Wyoming & Montana

03. – 31. Mai 2018 | 1.710 km, 10.300 hm

Andrea Berg, Heino und Marianne Rosenberg hallen durch den Wald. Daniel jodelt den Giftmüll der deutschen Schlagerwelt so laut er kann und klatscht dazu in asynchroner Inbrunst, bis die Zapfen von den Tannen fallen. Es gibt romantischere Touren – aber kein effizienteres Mittel, Bären zu vergraulen. In Wyoming und Montana erwachen die Abgezehrten gerade aus dem Winterschlaf, Einheimische warnen: „Mit Schwarzbären könnt ihr es aufnehmen, aber nehmt euch in Acht vor den Grizzlys!” Mehrere hundert Kilo schwer werden die mächtigen Tiere und messen aufgerichtet drei schauerliche Meter. Launige Männchen und Mütter mit Jungen sind unberechenbar und ein einziger Hieb der fußballgroßen Pranken tödlich. 2017 kollidierte ein Radfahrer mit einem der Raubtiere, keine Chance für den Sportler. Unser Körper weiß bald nicht mehr, ob er sich stille schleichend oder auffällig laut verhalten soll, denn das Hirn sendet ihm widersprüchliche Signale: Unbedingt wollen wir Grizzlys beobachten, doch um Himmels Willen keinem einzigen begegnen…

Bär, eindeutig!

Junger Schwarzbär mit Senderhalsband.

Bären können besser riechen als Hunde und Essbares sogar durch das Blech einer geschlossenen Konservendose erschnuppern. Die Tiere sind Allesfresser und jetzt im Frühsommer im Kalorienrausch. Daher müssen wir alles, was duftet, in einem Baum hochziehen: Vorräte, Kocher und Geschirr, Medikamente, sämtliche Hygieneartikel, Handtuch, Waschlappen, bekleckerte Kleidung. Dabei ist es gar nicht so einfach, einen weit vom Zelt entfernten Baum zu finden, der an einem ausladenden Ast in großer Höhe die Last einer 15 Kilo schweren Radtasche trägt, aber nicht das Gewicht eines kletternden Schwarzbären. Auch die Windrichtung muss stimmen, der Duft soll schließlich nicht ans Zelt locken. Kochen und Waschen erledigen wir daher früher als sonst, denn bis zum Sonnenuntergang muss das Camp stehen und die Tasche hängen – und wenn etwas fehlt, alles wieder runter.

Um uns diese Mühsal zu ersparen, drängeln wir uns jedem Warmshowers-Gastgeber auf, der nicht schnell genug sein Profil sperrt. Ihr kennt die Gemeinschaft inzwischen, einheimische Helden, die kostenfrei Radreisende beherbergen. Peggy und Warren bereiten ein 10-Sterne-Dinner, mit am Tisch sitzt das Unerwartete, eine echte Exotin, ein Augenstern: Warrens Mutter. Die 93-jährige Louise ist die erste ältere Dame, gepflegt von ihrem Kind, der wir auf diesem Kontinent begegnen. Der Schlauch ihres Sauerstoffgeräts durchzieht das Erdgeschoss wie ein Telefonkabel. „Give me another glass of that wine“, fordert Louise Nachschlag vom deutschen Glühwein, den wir unterwegs angeln konnten. Fast schon entschuldigend hatten sie Grandma vor der Haustür flüsternd angekündigt: “Ihr müsst wissen, Warren pflegt seine Mutter …” In den USA leben die Familienmitglieder zumeist mehrere Flugstunden voneinander entfernt, in der Hoffnung, im Alter irgendwie zurechtzukommen. Auf der anderen Seite der Welt, noch in Kirgistan, hatte uns eine Studentin gescholten: „Wenn ihr eure Eltern ins Pflegeheim karrt, ist das nicht besser, als hätten sie euch ins Waisenhaus gesteckt.“

Gastgeber Carey und Dawson.

Spontane Partygäste bei Brianna und ihrer Familie.

Warmshowers-Gastgeberin Holly.

„Ich habe jahrelang gutes Geld im Bergbau verdient, bis es mir in Wyoming zu blöd wurde: Im Sommer drückend heiß, im Winter pervers kalt und immer windig!“, verflucht eine Davongeflohene den am dünnsten besiedelten Bundesstaat der USA, nach Alaska. 2 Seelen teilen sich hier einen Quadratkilometer, in Deutschland sind es 222 auf gleicher Fläche. Nach ein paar hundert Kilometern platten Landes gewinnt die Landschaft endlich an Profil und die ersten schneebedeckten Zacken am Horizont jagen Endorphine ins Blut: Wir haben die Rocky Mountains erreicht!

Havarie im Zelt – die Schneeschmelze lässt Flüsse binnen Stunden über die Ufer treten.

Highlight des Tages: Die Schlüpfer sind trocken!

70 Prozent der Wähler Wyomings stimmten für Trump – nirgendwo fiel das republikanische Ergebnis besser aus, selbst in Texas waren es nur 52 Prozent. Im Gemischtwarenladen gibt’s Dünger, Bier, Waffen, Jagdlizenzen, was der Cowboy eben so braucht.

Am Eingang einer Tanke: „Cowboys, kratzt erst die Sche*ße von den Stiefeln!“

„Im Zweifel einfach umhauen“.

Doch in diesem konservativen Gruselkabinett liegt ein Ort, der das Reiseherz befeuert: Yellowstone! Der erste Nationalpark der Welt, 1872 gegründet. Anfang Mai sind wir früh dran, die Straßen noch von übermannshohen Schneewänden gesäumt und die meisten Zeltplätze geschlossen. Wir terrorisieren die Nationalparkverwaltung mit verzweifelten Anrufen – wo können wir nur kampieren? Bis plötzlich David durchklingelt, der Chef der Straßenwacht. Er gehört zu einer Handvoll Robusten, die selbst im tiefsten Winter hier ausharren und nur mit dem Schneemobil in Zivilisationsnähe gelangen. „Ihr könnt gerne bei mir übernachten!“, bietet er an, ohne uns zu kennen. Problem gelöst und gratis dazu gibt’s eine Lebensgeschichte, die schwindelig macht.

David überwinterte mehrere Jahre als Techniker am Südpol. „Ich bin eher schüchtern, deswegen haben sie mich ausgewählt. Die brauchen keine Lauten da unten.“ Die ewige Finsternis lockt selbst die Stillsten aus der Reserve, literweise floss der Alkohol, spontan gründeten sich Bands, die wilde Partys anheizten. „The time of my life“, zwinkert David. Er baute ein Haus auf Costa Rica, ein Earthship in Arizona und konnte beides nicht halten, weil das Geld für die Krebstherapie der Frau draufging. Um die Schuldenberge zu tilgen, buckelte er fünf Jahre in Irak und Afghanistan als Techniker. Nicht die Angst vor dem Tod zehrte an ihm, sondern das Nichts an Privatsphäre und Ruhe, das ständige Wachliegen in überfüllten Camps, die nächtlichen Mörserangriffe, immer im Alarmzustand. Der seelische Ruin für einen, der es gerne still um sich hat. Die Winter in Yellowstone erinnern ihn an den Südpol, „alles ist dann nur noch weiß, nichts reizt die Sinne.“ Ruhe heilt.

David und seine Mitbewohner, die Dänischen Doggen wiegen doppelt so viel wie ich.

“Lust auf eine Safari?” Klar! David hat viel Erfahrung, leistungsstarke Ferngläser und als Chef der Straßenwacht Zugang zu all den gesperrten Straßen im Park, was uns einen exklusiven Tag beschert.

Große Herden von Bisons, Hirschen und Antilopen ziehen durch das Lamar-Tal, die „Serengeti Nordamerikas“.

“Bear jam”, Bärenstau.

Das Herz des Nationalparks bildet ein geothermales Hochplateau, die Caldera des Yellowstone-Supervulkans. Dessen letzter großer Ausbruch vor 640.000 Jahren schleuderte Asche mit der Kraft von 1.000 Hiroshima-Bomben (pro Sekunde) bis hinunter nach New Mexiko und stürzte den Planeten in einen globalen Winter. Beim nächsten Ausbruch dieses Ausmaßes würde ein Siebtel der Menschheit eingeäschert, verhungern, erfrieren. Obwohl sich der Boden über Yellowstone um 15 cm jährlich hebt, ist die Wahrscheinlichkeit für einen baldigen Ausbruch gering: etwa eins zu 730.000 pro Jahr.

Die Anzeichen hoher vulkanischer Aktivität sind allgegenwärtig. Eine gewaltige Magmakammer nur wenige Kilometer unter der Erdoberfläche erhitzt versickertes Regenwasser, presst es durch enge Spalten wieder nach oben, und so zischt, blubbert und dampft es an über 10.000 verschiedenen Stellen im Park. In den lebensfeindlichen Quellen, kochend heiß und so sauer wie eine Autobatterie, formen Bakterien leuchtend bunte Kolonien.

Wir verlassen Yellowstone, aber die Wildnis endet nicht. Wachsam rollen wir durch dampfende Urwälder, permanent zirkuliert das Adrenalin. Einem Bären davonzufahren ist aussichtslos, die Tiere schaffen im Sprint 50 km/h. Plötzlich hält Daniel sachte und zeigt auf das Gebüsch gegenüber: Ein Grizzly trottet neben uns in die gleiche Richtung, lautlos und desinteressiert. Wir beobachten ihn einen Moment und machen uns dann zügig vom Acker …

Auf einem noch geschlossenen Zeltplatz liegen wir lange wach, ganz allein in den dunklen Nadelwäldern, und lauschen jedem Geräusch. Am nächsten Morgen trifft mich fast der Schlag, als zwei Elche vor mir stehen, groß wie Pferde. Wir frühstücken zu viert – und ich mache keinen Schritt mehr ohne eine gute Pulle Bärenspray!

Gut so, denn am nächsten Abend sieht unser Zelt noch einen Bären, und was für einen! Ein großes Männchen spaziert lässig vorbei, als wir Spaghetti schlürfen. Ich erstarre, Daniel greift blitzschnell zum Bärenspray und flitzt mit der Kamera hinterher …

Ob der wohl reserviert hat?

Auf der anderen Seite der Caldera liegt Montana, „Land of the Big Sky“, das Land des Großen Himmels. Kleinere Pässe und weite Täler vermitteln ein unbegreifliches Gefühl von Weite, Schäfchenwolken lassen ihre Schatten über saftige grüne Wälder ziehen, durchsetzt von blühenden Wiesen und glasklaren Seen. Fisch- und Weißkopfseeadler, Eisvögel und Pelikane jagen in den Gewässern, Hirsche und Elche grasen im Unterholz. Melodramen wie “Der Pferdeflüsterer” wurden in Montana – wo auch sonst? – gedreht, oftmals stoppen wir und schauen uns beide an: Hier könnte man leben!

Ungewöhnliche Polizei patrouilliert vielerorts. Die „Indian Reservations“ sind Staaten im Staat, die Regierungsgebiete der Native Americans, inklusive eigener Polizei, Gesetzgebung und eigener Gerichte. Doch ob Weißgesicht oder Native: Keiner schert sich um die Trucker, die uns täglich von der Straße räumen. Auf dem Asphalt herrscht das Faustrecht. Zeigte man uns noch in Utah den gestreckten Daumen, ist es hier häufiger der Mittelfinger. Wir erwidern den Gruß, man will ja nicht unhöflich sein. „Roadkill“ nennen die Australier überfahrene Possums und Kängurus. Hier ist der Roadkill ebenso zahlreich, in keinem anderen Bundesstaat die Todesrate im Verkehr höher. Alle paar hundert Meter säumt den Straßenrand ein Kreuz mit Plastikblumen.

Zerballerte Schilder überall.

Als die ersten weißen Siedler vor 200 Jahren in den Prärien Nordamerikas aufkreuzten, ließ noch der Donner von 15 Millionen Bisons die Ebenen erzittern. Da die bulligen Tiere immer wieder Lokomotiven entgleisen ließen und zugleich die wichtigste Nahrungsgrundlage der verhassten “Indianer” darstellten, begann rasch eine erbarmungslose Jagd mit allem, was zur Verfügung stand. Von Maschinengewehren niedergemäht und Granaten in die Luft gesprengt überlebten nur 23 reinrassige Büffel das nur 15 Jahre währende Massaker. Heute haben sich die Bestände stabilisiert und streifen wieder einige große Herden durch verstreute Schutzgebiete.

Der Bericht soll mit einem Lebenskünstler enden, getroffen im Glacier Nationalpark an der kanadischen Grenze. Im Arbeitshemd und mit leuchtenden Augen kommt Dean auf uns zu: “Where are you from? I love foreigners!” Wo kommt ihr her? Ich liebe Ausländer! Dean, pensionierter Schuldirektor, genießt jedes Jahr mehrere Monate an seinem Lieblingsort. Die Ranger lassen ihn seiner (im Nationalpark verbotenen) Passion nachgehen, der Landschaftspflege. Der Wagen ist voll mit Gartenscheren, Sägen, Spaten, mit denen er Wanderwege trimmt oder Aussichtspunkte freikappt. Dean lädt uns zum Abendbrot ein, mehrfach, im Gegenzug giert er nach Geschichten und Ansichten. „Welche Unterschiede gibt es zwischen Ost- und Westdeutschland? Wie war das Radfahren in Pakistan? Wie funktioniert das deutsche Schulsystem?“ Ein wandelndes Fragezeichen, und selbst wir sind erstaunt, wie viele Ranger, Touristen, Fremde Dean unterwegs „interviewt“, immer auf der Suche nach Antworten. Als Daniel 170 km weiter die Hinterradachse bricht, genügt ein Anruf und Engel Dean liefert Ersatz. Nicht nur wegen seiner Gastfreundschaft ist er uns ein großes Vorbild: Wer sich nicht alltagsmüde im eigenen Kleinklein abschottet, jeden anspricht, dem man Wissen abtrotzen kann, wer sich sein Leben lang geistig zu bequemen weigert und jede neue Erkenntnis als Glück und Hochgenuss empfindet – der zelebriert das Leben, wie es dem Leben gebührt.

Wild Goose Island im Glacier Nationalpark.