China - Yunnan

08. November 2017 – 03. Januar 2018 | 2.140 km, 26.920 hm

Ich sitze am Straßenrand und schluchze, Tränen vermischen sich mit Schweiß und Dreck. Wieder einmal haben wir uns in einer Endlosbaustelle Chinas verfranst, krachen Kolonnen aus Schwerlasttransportern, Sattelschleppern und Traktoren vorbei. Offene Zweitaktmotoren ohne Schalldämpfer, die an den steilen Hängen dröhnen wie startende Düsenjets. Selbst durch die Ohrenstöpsel wummert es. Bergauf „atme“ ich inzwischen durch die Nase, unablässig ballert uns der Gegenwind Abgase und Zement ins Gesicht. Wir werden beständig von der Bahn gehupt, weil Zeit = Geld und Geld ist wichtiger als Zeit. Nicht nur wir stehen dem Wachstum im Wege, ganze Dörfer verschwinden im Staub. Doch außer uns scheint das niemanden zu stören. Denn der Bausand von heute bildet das Fundament für die Zukunft und der Lärm der Motoren ist der Sound von Fortschritt und Moderne.

Ein ganzes Dorf wird neu errichtet.

In den vergangenen zehn Jahren installierte China 80.000 km Autobahn, das längste Netz für Hochgeschwindigkeitszüge, die längste Brücke (164 km) und selbstverständlich auch das größte Einkaufszentrum der Welt – mit 1.500 Geschäften. Innerhalb von drei Jahren fraß der Bauwahn mehr Beton als die USA im gesamten 20. Jahrhundert. Die Kommunistische Partei braucht Superlative, um die Spannungen zwischen Bettelarmen und Superreichen, Bauern und Großstädtern zu glätten und den Unmut gegen Korruption, horrende Mieten und vergiftete Babynahrung zu besänftigen.

Präsident Xi Jinping will mit Nationalstolz den gesellschaftlichen Flickenteppich noch enger knüpfen. Er kreierte den markigen Slogan vom „Chinesischen Traum, dem Wiederaufstieg der chinesischen Nation“, der nun von Kashgar bis Peking das Volk auf monumentalen Plakaten antreibt. Bis 2049, dem 100-jährigen Geburtstag der Volksrepublik, soll China die geopolitische, wissenschaftliche, militärische und natürlich wirtschaftliche Weltmacht sein.

Größer könnten die gesellschaftlichen Unterschiede kaum sein?

Diesen feuchten chinesischen Traum baden wir nun also aus. Im Rahmen seiner „Go West“-Strategie werden die Handelsrouten der ehemaligen Seidenstraße fit gemacht für die Exportkolonnen in Richtung Europa. Der Karakorum-Highway wird in ein paar Jahren eine LKW-Hölle sein, ebenso die maigrünen Hügel Kirgistans, all die wunderschönen Länder, durch die wir in den vergangenen Monaten reisten. Das Gefühl von Ohnmacht hängt wie Blei an uns und den Rädern. Wir denken zurück an die geselligen Runden im Kreise zentralasiatischer Familien. Das Abendessen stammte fast vollständig aus dem heimischen Garten und wurde restlos verputzt, denn Nahrung wurde als das angesehen, was es ist: eine wertvolle Ressource. Müll entstand, wenn überhaupt, nur in geringen Mengen, Strom und Netzempfang gab es meist nur sporadisch. Wir plauderten, bis uns die Augen zufielen, das Smartphone erfüllte nur den Zweck der Übersetzungshilfe. Aber: es fehlte uns an nichts.

Und am Ende der wilden Müllkippe wachsen unsere (und eure) Bananen.

Ankunft im chinesischen Kunming: unser Abendessen verschwindet fast in dessen Verpackungsmüll, am Nachbartisch bleiben ganze Menüs unangetastet zurück, genauso halbvolle Kippenschachteln – Verschwendung gilt als Statussymbol. Ein Konsumtempel reiht sich an den nächsten, Werbung prasselt unablässig auf die Passanten ein, die vertieft in ihre digitalen Begleiter unfreiwillig zusammenstoßen. Die SUV blitzen und blinken und wenn sich die Türen öffnen, entsteigt zunächst das Smartphone, dann der Selfie-Stick, zuletzt der Fahrer.

In Hotelzimmern und Restaurants ist es üblich, Speisereste und Müll auf dem Boden zu entsorgen – irgendjemand wird sich darum kümmern.

Hinzu kommt die unüberwindbare Sprachbarriere, die uns kaum tieferes Verständnis entwickeln lässt. Ich kann mich selbst nach Wochen nur schwer an die animalischen Tischmanieren gewöhnen, das Schmatzen und Schlürfen, das geräuschvolle Spucken, als ob sich jemand erbricht, das aber der inneren Reinigung dient. Claudia stört vor allem, dass immer und überall gequalmt wird, selbst während des Essens. Mütter animieren ihre Kinder, in Mülleimer oder den Eingang des Restaurants zu pinkeln, direkt neben uns. Manch einer popelt, dass ich Angst um sein Riechzentrum habe. Es sind diese Eigenarten, die uns immer wieder erschaudern lassen, wir können nicht anders, und das ist nicht fair.

Man darf es nicht so genau nehmen mit der Hygiene, es geht auch ohne.

Denn entgegen unserer Erwartungen sind die Chinesen nett, sehr sogar, hilfsbereit und angenehm distanziert. Die Provinz Yunnan ist etwas größer als Deutschland, aber deutlich weniger dicht besiedelt und die zweitärmste der Volksrepublik. Allein hier leben 36 Minderheiten, in ihren bunten Kostümen angenehme Farbtupfer im Einheitsgrau urbaner Betonlandschaften.

Einer der großen Gastgeber des Landes sitzt auf einem Plastikhocker und ist der leibhaftige Strich in der Landschaft. Nach einem Deutschkurs gab er sich den Kosenamen „Ferne“. Ein paar Tage dürfen wir kostenfrei unser Zelt auf seiner Dachterrasse in Dali aufstellen. Ferne spricht fließend Englisch, diskutiert leidenschaftlich über Politik und ist damit wohl genauso ein Exot hier wie wir Weißgesichter.

Dalis Altstadt.

Gleich nebenan: der Erhai-See.

Bei einem Gläschen frage ich ihn, was er von dem neuen Punktesystem hält, doch er ist völlig ahnungslos, was uns wiederum schockiert. Denn schon 2020 will Peking ein reichlich perverses Rating einführen, das jeden der 1,3 Milliarden Chinesen nach dem Grad seiner Staatskonformität bewertet. Als Datenquellen dienen Kranken- und Gerichtsakten, Finanztransaktionen, aber auch Online-Suchanfragen und -Einkäufe, Einträge in sozialen Netzwerken, Fitness- und Bezahl-Apps. Ein gewaltiger Datenschatz, Pilotprojekte laufen bereits.

Futter für die sozialen Medien.

Bist du der perfekte Staatsbürger? Dann treibst du Sport, engagierst dich ehrenamtlich und liest die Parteizeitung. Dir winken hohe Sozialleistungen, Beförderungen, Vorteile bei der Kreditvergabe und erleichterte Reisegenehmigungen. Äußerst du dich kritisch im Netz, rast wie ein Formel 1-Pilot, magst Pornos und Pommes? Dann drohen Minuspunkte und somit erschwerte Versicherungs- und Kreditbedingungen oder gar der Jobverlust. Kein Witz, sondern Wirklichkeit! Die individuelle Punktzahl ist auch in sozialen Netzwerken öffentlich einsehbar und wird schon jetzt von Heiratsagenturen als Statussymbol genutzt. Wir fragen uns, wann Peking „Gedankenverbrechen“ ahndet und „Doppeldenk“ verordnet? „Am besten, du wirfst dein Handy ins Klo“, raten wir unserem Gastgeber Ferne. Er verstummt eine Weile, bevor er kommentiert. „Ich habe inzwischen gelernt, Dinge auszuhalten.“ Widerstand zu leisten bleibt in China eine Überlebensfrage.

Punktabzug?

Wieder auf den Rädern, ziehen die Tage ereignislos vorüber wie die Schäfchenwolken am Horizont. Nachdem uns die Polizei bei Kashgar aus dem Zelt jagte, sind wir immer noch arg verunsichert, was das wilde Kampieren anbelangt. An den steilen Bergflanken finden sich zudem kaum Zeltmöglichkeiten und flaches Terrain wird vollständig landwirtschaftlich genutzt. Wir quetschen uns zwischen Gewächshäuser und Plantagen für Kaffee, Bananen und Zuckerrohr, zelten versteckt auf Trampelpfaden inmitten des Regenwaldes. Anfangs ist die Unsicherheit, wieder gemeldet und abgeführt zu werden, ein lästiger Begleiter. Wir schlafen unruhig und erwachen, wenn es im Gebüsch knackt oder ein Scheinwerfer unseren Palast streift. Doch die Sorgen sind unbegründet, die passierenden Bauern sind entweder erstaunt oder erstaunlich desinteressiert.

Daniels Geburtstag bei Warmshowers-Gastgeberin Vera in Kunming.

Wiedersehen mit Ralph und Imke, Weltradlern aus BaWü.

Obwohl wir die Subtropen während der Trockenzeit besuchen, fallen die Temperaturen manchmal unter den Gefrierpunkt. Nicht selten starten wir morgens im dampfenden Tiefland, queren die Wolkendecke in dichtestem Nebel und bibbern in eisigen Winden auf der Passhöhe. Das größere Ungemach jedoch bringt die manchmal extrem hohe Luftfeuchtigkeit von knapp 100 Prozent. Am Morgen ist unser Hab und Gut pitschnass und wir haben Mühe, die Utensilien im Laufe des Tages wieder zu trocknen.

Wir haben den tropischen Regenwald in Xishuangbanna erreicht.

In der schwülen Luft wird die schweißnasse Kleidung gar nicht mehr trocken.

Das Höhenprofil in Yunnan ähnelt mitunter der Kauleiste eines Krokodils. An- und Abstiege von 30, 40 Kilometern sind an der Tagesordnung, vor allem auf dem Weg zu den Reisterrassen der Hani. Je näher wir ihnen kommen, desto nervöser zucken Daniels Finger und desto lauter schnurrt und surrt die Kamera. Im Laufe mehrerer Jahrhunderte haben die Hani-Bauern ein kunstvolles Mosaik angelegt, das wie eine Leiter gen Himmel steigt – die einzige Möglichkeit, in dem unwegsamen Terrain Landwirtschaft zu betreiben. Der Regen der Berge wässert die Felder über ein komplexes System aus Bambusrohren. Um die Monokultur zu düngen, setzen die Hani Aale, Krabben und Enten in die gefluteten Felder, Wasserschnecken futtern die Schädlinge. Dieses ausgeklügelte wie nachhaltige System extensiver Landwirtschaft bewog die UNESCO 2013 dazu, das Gebiet in die Liste der Weltkulturerbe aufzunehmen.

Wir nähern uns der laotischen Grenze und freunden uns mehr und mehr mit der Umgebung an. Der Regenwald wird dichter, die Menschen ärmer. Und so zynisch es auch klingt: für uns Radtouristen ist Armut spannender als Reichtum. Denn das Leben spielt sich direkt am Straßenrand ab: die Menschen spielen Karten, waschen sich, schlachten Hühner. Und sie grüßen uns öfter.

Aderlass.

Hier besser nicht zum Zahnarzt?

Ein „Wandelnder Ast“.

Kein Schmetterling, sondern eine bissige Heuschrecke.

Nach zwei Monaten verlassen wir China letztlich erleichtert. Wir fragen uns, wie man inmitten all des Staubs und Geräusch-Terrors leben kann. Ich bedauere, dass der Westen dem Osten kein alternatives Fortschrittsmodell anbieten konnte, im Gegenteil, China treibt unseres noch auf die Spitze. Wohlstand und Fortschritt versprechen viel, meinen jedoch in ihrer jetzigen Ausformung nur das Gleiche wie Zerstörung und Desozialisierung. Natürlich wussten wir das irgendwie verschwommen im Voraus, aber durch dieses „Wirtschaftswunder“ mit dem Fahrrad zu fahren und am eigenem Leibe zu spüren, wie die Moderne alles niederwalzt, bringt uns völlig aus der Fassung. Uns schwant, dass auch die erneuerbaren Energien keine „Heilsbringer“ sind, denn um Gemeinsinn und Umwelt zu erhalten, braucht es von allem weniger: weniger Wachstum, weniger Konsum, weniger Verschwendung. Bescheidenheit und die Frage, was wirklich notwendig, was wirklich wichtig ist – das müssen Leitgedanken eines Lebensstils sein, der zukunftsfähig ist. Und wer braucht eigentlich Selfie-Sticks?