Iran

23. April – 20. Mai 2017 | 1.530 km, 9.310 hm

Unsere Reise steht vor dem Aus, noch bevor sie begonnen hat. Die iranische Polizei hält Daniel am Teheraner Flughafen fest, mit seinem Pass stimmt etwas nicht. Es ist Mitternacht und Interpol schläft; auch macht der Notdienst der Deutschen Botschaft wenig Hoffnung. Blass und müde sitzt der Arme zwischen Wachmännern im Transitbereich, während ich bei unserem Gepäck kauere. Nach sieben Stunden bangen Wartens kommt er mir endlich lächelnd entgegen.

Zügig bauen wir die Räder zusammen und werden erstmals der iranischen Gastfreundschaft – Gastliebe! – gewahr. Mitarbeiter und Reisende wuseln um uns herum, schenken uns ein Kilo Pistazien. Handyfotos von Lothar Matthäus und Bayern München machen die Runde. Selbst Leipzig kennen die Jungs, schließlich ist RB aufgestiegen. Dann wird die Szene wahr, die ich hunderte Male wie ein Film im Kopfkino abgespielt habe: wir setzen uns auf die Räder und rollen vom Flughafen hinein in die Welt.

Auf den ersten Kilometern machen wir uns mit den landestypischen Autobahnen vertraut. Knatternde LKW und Busse überholen sich gegenseitig links und rechts, immer einen Finger an der Hupe. Die Sonne knallt und der Gegenwind schmeckt nach Diesel. Später in den Bergen quellen die Abgase so dicht aus manchem Tunnel, dass wir meinen, es müsse darin brennen. Nach Schätzungen der WHO sterben etwa 25.000 Iraner jährlich auf den Straßen, knapp achtmal mehr als in Deutschland (bei vergleichbarer Einwohnerzahl). Dennoch kommen wir relativ sicher auf dem Seitenstreifen voran – bis wir den sechsspurigen Highway kreuzen müssen …

Nicht nur der Verkehr drückt das iranische Image: Das Land ist eine islamische Theokratie, ewiggestrige Autokraten instrumentalisieren den Glauben als verpflichtende Ideologie und festigen so die eigene Macht. Die Mullahs um den geistlichen Anführer Khamenei bestimmen auch, wer zur Präsidentschaftswahl zugelassen wird. Demonstranten werden verhaftet, Zeitungen verboten. Regimegegner laut Amnesty International öffentlich hingerichtet, ausgepeitscht oder Gliedmaßen amputiert. Schon die Zeichnungen in Kinderbüchern zeigen, wie man Verbrecher erhängt – nur China verhängt mehr Todesstrafen.

Khomeini, Vorgänger Khameneis und Gründer der heutigen Islamischen “Republik“, wacht über alles.

Wie alle Frauen in Iran muss auch ich ein Kopftuch und lange Kleidung tragen, selbst auf dem Rad. Ich fühle mich verkleidet, schäme mich für die Kombi aus Zipp-Off-Hose und feinem Kopftuch und stelle mir vor, wie ich diesen nervigen Schweißfänger und Im-Essen-Hänger hinter der Grenze vor den Augen der Polizisten verbrenne. Vier Wochen dauert dieses einmalig unangenehme Reiseabenteuer für mich – die Iranerinnen müssen sich ihr gesamtes Leben dieser Pflicht beugen. Zwar studieren Frauen hier häufiger als Männer, dennoch sind sie in politischen Gremien oder Führungsriegen rar. Zeugenaussagen von Frauen gelten vor Gericht wenig, nur selten erhalten sie nach Scheidungen das Sorgerecht.

Zudem klebt der Name Ahmadinedschad am iranischen Aushängeschild; ein Kriegstreiber, der mit Atombomben drohte und bis 2012 als Präsident das Land vom Westen und vom Fortschritt isolierte. Viele warnen uns vor diesem Schurkenstaat – doch sehen wir keinen einzigen Terroristen, außer vielleicht diesen …?

Von antiwestlicher Stimmung spüren wir hier nichts: selten haben wir uns in einem Land so willkommen gefühlt. Täglich überladen uns die Menschen mit Brot, Gurken, Bonbons, Rosen, Keksen, CDs, Orangen, Malzbier und Muffins. Manchmal passt nichts mehr in die Radtaschen. Zum Zelten kommen wir hier kaum – mitunter werden wir regelrecht „weggefangen“ und mitsamt den Rädern zum Haus der Gastgeber chauffiert.

Wir essen im Kreis der Familien und werden Zeugen überraschender Szenen: einer holt Bier aus dem Kühlschrank, geschmuggelt aus der Türkei und 8 Euro teuer. Ein anderer äfft den singenden Muezzin nach. Mit der „Kopf ab“-Geste deutet der nächste Gastgeber auf seinen Führer Khamenei im TV. Ein Deutschiraner wettert: „Die IS-Terroristen sollten hier für zwei Monate leben – sie würden sich vom Islam abwenden!“ Und immer wieder bittet man uns: Erzählt den Deutschen, dass wir keine Terroristen sind. Sondern gute Menschen!

Unsere Route führt von Teheran gen Norden, in steilen Serpentinen das Elburs-Gebirge querend hin zum Damavand (5.610 m). Der perfekt symmetrische Schildvulkan erhebt sich majestätisch aus der umliegenden Bergkette und gilt als höchster Berg des Landes.

Mit steigender Höhe fallen die Temperaturen um 25 °C. Nachts toben heftige Gewitter, es hagelt ohrenbetäubend laut, Blitze erhellen die Dunkelheit und Donner lässt den Boden vibrieren. Obwohl wir sicher zelten, ist uns äußerst mulmig, wir liegen lange wach und zählen die Sekunden zwischen Blitz und Donner.

Nach einem Ruhetag im Sonnenschein sausen wir 2.700 Höhenmeter hinab zum Kaspischen Meer, dem größten See der Erde. Dessen schmaler Küstenstreifen nördlich des Gebirges ist fast subtropisch warm und feucht, endlose Reis- und Weizenfelder säumen den Weg.

Nach einigen Tagen entlang des Meeres wenden wir uns wiederum gen Südosten und queren den Golestan-Nationalpark. Die Einheimischen bewerben ihren „Dschungel“, dabei handelt es sich um den kläglichen Rest einst ausgedehnter Laubwälder – der Rest fiel der Abholzung zum Opfer. Langsam erreichen wir das trockenheiße Hochplateau, das einen Großteil des Landes ausmacht. Binnen weniger Radstunden ändern sich die klimatischen Bedingungen, Gewitterstimmung liegt in der Luft.

Schon jetzt im Mai erreichen die Temperaturen deutlich über 30 °C im Schatten, wie muss das erst im Sommer sein? In der nächtlichen Kühle genießen wir ruhige Stunden zwischen den Hügeln, lauschen dem Pfeifen der Ziesel, Zirpen der Grillen und dem Ruf der Füchse. Tagsüber werfen uns heiße, teils stürmische Winde fast vom Fahrrad, bringen aber keine Erleichterung. Claudia schmort unter der langen Pflichtbekleidung und schummelt: entweder Helm oder Kopftuch, beides ist zu viel des Guten!

Als wir eines abends in der weitläufigen Landschaft zelten, wir haben schon gegessen und liegen fast in den Schlafsäcken, taucht unvermittelt die Polizei auf. Man verlangt nach den Pässen, fragt, ob wir auch verheiratet seien und verweist uns des Platzes – irgendetwas sei gefährlich. Selbst die telefonisch hinzugerufene Übersetzerin vermag nichts zu konkretisieren. Doch als in der Ferne zwei Hunde jaulen, ist es vorbei. „Mister, danger animal!“ Nach zähen Verhandlungen im Schein der Stirnlampen werden wir schließlich zur größten Moschee der nächsten Stadt eskortiert, mitunter in Begleitung mehrerer Polizeiwagen und eines guten Dutzends Schaulustiger. Dort empfängt der Vorsteher persönlich. Also mich, denn Claudia wird konsequent ignoriert – das einzige Mal in diesem Land. Erst nach zahllosen Höflichkeiten, einigen Gläschen Tee, Keksen, einem Rundgang durch Moschee und Garten, noch mehr Tee und Süßigkeiten fallen wir um Mitternacht endlich ins Bett.

Schneller als gedacht erreichen wir Mashhad nahe der turkmenischen Grenze. Die heiligste Stadt des Landes hütet den Schrein des 8. Imam Reza, einen mit Lapislazuli, Gold und Silber reich verzierten Kuppelbau inmitten des Heiligen Bezirks – und so berühmt, dass dessen Erbauer später auch das Taj Mahal in Indien planten. Uns Ungläubigen ist weder der Zutritt zum Schrein noch Fotografieren mit einer Kamera gestattet. Ringsum locken unzählige Hotels, uniforme Safran-Shops, Schmuckläden und Fastfood-Buden 25 Millionen kauffreudige Pilger jährlich. Wir entspannen ein paar Tage, bevor es Richtung Turkmenistan weitergeht.

Iran erscheint uns als Gefängnis, allerdings mit derart herzlichen, hilfsbereiten und aufgeschlossenen Insassen, dass wir bisweilen vergessen hinter Gittern zu sein. Wann immer wir den biederen Khamenei im TV predigen hören, offenbart sich die gewaltige Kluft zwischen den rückwärtsgewandten Mullahs einerseits und den freundlichen und oft von Deutschland schwärmenden Menschen andererseits. „Betet für uns!“, bittet mich eine Wächterin im Heiligen Schrein Imam Rezas. Und in diesem Moment würde ich sie so gerne mit nach Deutschland nehmen. Dem Paradies auf Erden.