Kanada

31. Mai – 27. Juni 2018 | 460 km, 3.950 hm

Los geht’s mit unseren vorerst letzten Metern in den USA und Gott hat einen besonders bescheidenen Tag. Es gießt in Strömen, Anfang Juni ist Daunenjacken-Wetter. Eigentlich schuftet die Sonne bis 22 Uhr, doch heute macht sie blau, so gäkig ist es draußen. Wir würden triefnass und fluchend in die Pedale treten, wäre da nicht die soziale Ader der Amerikaner. Dieses Mal heizen Kristi und Roger ihren Wohnwagen vor und im Molligwarmen frühstücken wir Pancakes. Regen, der an Scheiben prasselt und nicht ans Außenzelt – es gibt keinen größeren Luxus. Alle Radtaschen sind schon im Trockenen verstaut, die Räder auf dem Anhänger. Kristi und Roger chauffieren uns über die Grenze. Mit dabei eine Blechdose, wertvoller als alles Geld der Welt. Die Asche ihres Sohnes. Jonathan rauchte, sniffte, naschte, spritzte sich, bis sein Körper aufgab. “Er wollte nicht leben”, sagt Kristi stumm. Mit 33 hatte er es geschafft.

Eigentlich arbeitet sie als Krankenschwester, aber wie soll man helfen und heilen, wenn man selbst gerade zerbricht? Ehemann Roger kaufte einen Wohnwagen, seine Frau müsse raus aus ihrer schwarzen Welt. Hinein ins Schöne, Bunte, in die Ruhe, ins Abenteuer. Sie fahren nach Alaska. Wenn das eigene Kind stirbt, wie erhält man sich selbst am Leben? Ihre Kraft bereitet mir Gänsehaut. Lachend erzählt die Krankenschwester ihre beste Story aus dem Geburtssaal. Ein weißes Ehepaar, die Frau liegt in den Wehen, Stunden später gebärt sie ihr Baby, ein dunkelhäutiges. Kristi vergewissert sich noch heimlich beim Arzt: “Doc, das Kind ist doch schwarz!?” “Oh ja…” Kein Spielverderber findet sich, alle spielen die Show mit. Alle lächeln auf dem ersten Familienfoto.

Unser Gepäck bleibt unbefingert, ohne Kreuzverhör rollen wir über die kanadische Grenze. Wer in das Bollwerk USA einreisen durfte, muss harmlos, weiß und wohlhabend sein, wir werden lässig durchgewunken. Nur schemenhaft lassen sich im Nebel die verkohlten Baumleichen ausmachen, die zu Abertausenden die Straße säumen. 2017 entfachten Blitze ein Feuer und kaum jemand rechnete damit, dass es nach mehr als drei Wochen noch immer nicht unter Kontrolle sein würde. Die Feuerwalze fraß schließlich knapp 40 Prozent des Waterton Nationalparks und zerstörte mehr als Dreiviertel aller Wanderwege und Campingplätze.

Das Prince of Wales Hotel wurde durch wochenlange künstliche Beregnung gerettet.

Der alte Dickhornwidder hat schon so manchen Kampf gefochten.

Nach den Wochen der Kälte ist es endlich wieder angenehm warm und die Fahrt entlang der Rockies ein Genuss. Auf und ab durch welliges Hügelland, links die Berge, rechts die Prärie. Keine Private-Property-Schilder, dafür Menschen mit europäischen Kleidergrößen und handlichen Autos. Niemand protzt mit seinen Waffen. Doch irgendwie sind alle kühler, kaum eine Seele spricht uns an. An der Kasse unterbricht nur das Piepsen die distanzierte Stille. Unglaublich, wir vermissen die Amis!

Gar frostig wird es, erwähnt man die südlichen Nachbarn. Trump hat den Handelsstreit ausgerufen, Strafzölle verhängt. „Wir sind ziemlich pissed off“, meint Warmshowers-Gastgeberin Kiersten, sie boykottiere jetzt amerikanische Produkte. „Statt Heinz Senf kaufe ich einfach Kozlik’s.“ Ein anderes Paar verzichtet gar auf den jährlichen Urlaub in Malibu Beach.

Doch selbst T***p kann uns die Stimmung nicht versauern, euphorisch wetzen wir zwei großen Wiedersehen entgegen. Zunächst passen uns Jochen und Beata ab, die unermüdlichsten Weltendecker. Beata arbeitet für das Goethe-Institut, alle fünf Jahre ziehen sie „berufsbedingt“ von einem exotischen Wohnort zum anderen. 2013, auf unserer ersten Langzeitreise, lud uns Fotofreund Jochen ins indische Mumbai ein. Zuvor lebten sie in Brasilien, fast schon zuhause sind sie demnächst in Lissabon. Jochen gehört zur Handvoll jener, die uns regelmäßig schreiben. Kein Reisebericht bleibt ohne seine Reflexionen, Anerkennung, Witz – der Kosmopolit sendet turnusmäßig Treibstoff für tausend Gipfelstürme.

Bei zwei verrückten Wanderern kommen wir unter in Calgary. Im Haus von Heather und Egbert wabert die gewagte Duftmischung aus Kakao, Dörrobst und getrocknetem Rind. Eifrig brummt der Dehydrator. Um leichter unterwegs zu sein, absolvierten sie einen Hochschulkurs im Dehydrieren. Auch uns statten sie aus, mit selbstgemachter Mousse au Chocolat zum Anrühren und einer ordentlichen Portion Trockenfleisch für Daniel. Wir sind gerne Versuchsmäuse! Völlig entspannt reagieren sie auf unsere Invasion, schmunzeln, als wir ihren gesamten Hof für das Schrubben der Ausrüstung okkupieren. Wir machen uns schick für lang ersehnten Besuch. Die Vorfreude auf ein Wiedersehen mit Daniels Familie half uns durch die chinesische Einsamkeit zu Weihnachten, die schwierige Zeit in Südostasien und jede Strapaze der vergangenen Monate.

Meine armen Eltern haben durch ihre globetrottenden Kinder ein hartes Los gezogen, besuchten schon meinen Bruder auf den Philippinen, meine Schwester in England und mich in Argentinien – und nun also uns in Kanada, zusammen mit Tanten und Onkeln als Verstärkung. In zwei Wohnwagen wollen wir Richtung Vancouver kurven und sind gespannt, wie uns das Reisen auf vier Rädern taugt.

Onkel Lothar & Tante Maria, meine Eltern Justina & Jürgen, Tante Verena & Onkel Norbert.

Um die zwei Schiffe in den Nationalparks unterzubringen, müssen wir nun vorher reservieren. Einfach so dazwischenmogeln geht nicht mehr. Enorm wichtig ist plötzlich auch die Verfügbarkeit von Steckdosen: Gewisse Semester können nicht mehr ohne Fön. Claudia geht mit meinem Vater joggen, die männliche Fraktion kümmert sich um ordentliche Steaks, während uns die weibliche auf’s Beste verwöhnt. Claudias Familie schickt Briefe zum Geburtstag, seitenlange Rührung, den gesamten Morgen liest sie mit dunkler Sonnenbrille – meine Tanten hatten bereits im rumpelnden Wohnwagen einen Kuchen gebacken.

Mit Fönfrisur wandern wir die Rockies hoch und runter und sind erstaunt, wie fit unser Trupp über Eis und Fels graziert. Banff und Jasper – selbst die größte Couchpotato, der süchtigste Ballerspielzocker wäre gerührt von diesen Nationalparks.

Wir treffen Jens und Jana wieder (ganz rechts), die wir schon aus Utah kennen.

Sunwapta Falls.

Und am Ende des Tages sind alle geschafft.

Entlang von Gletschern – oder dem, was noch davon übrig ist – schlängelt sich der Icefields Parkway bis auf über 2.100 m. Die Ausblicke euphorisieren wie ein Rauschgift, eine Polizeikontrolle wäre gefährlich, jeder Fahrer fährt mit vernebelten Sinnen.

Moraine Lake.

Im Lauf der Jahrtausende hobelt das fließende Eis tiefe Täler in den harten Fels und zermahlt das Gestein zu feinstem Schlamm. Das „Gletschermehl“ trübt die ablaufenden Flüsse milchig grau. Später sinken die größeren Partikel zu Boden, übrig bleiben feinste Schwebepartikel, die vornehmlich die blaugrünen Anteile des Sonnenlichts reflektieren. Je nach Jahreszeit verändert sich daher das Antlitz der Gebirgsseen: Schlammig grau im Frühjahr, wenn viel Eis schmilzt, leuchtend türkis im Sommer, wenn weniger Nachschub kommt, kristallklar im Spätherbst, wenn die Zufuhr versiegt. Ein typisches Phänomen vieler von Gletschern gespeisten Seen der Erde.

Manche sehen aus wie ein Chemieunfall: Lake Louise.

Die Farben ändern sich im Tages- und Jahresverlauf, je nach Sonnenstand und Wasserpegel.

Mehr als einmal starten wir die motorisierte Wagenburg schon im Morgengrauen, um die Landschaften im besten Licht zu sehen, während meine Eltern noch schaukelnd schlafen – oder zumindest so tun. Es ist erstaunlich und unendlich stark, auch selten unter Familien, wie kompromisslos kompromissbereit jeder ist und selbst zusammengeworfen auf engstem Raum keine Fetzen fliegen. Allabendlich zelebrieren wir die gemeinsame Zeit am Lagerfeuer und genießen jede Sekunde der intensiven, vertrauten Unterhaltungen.

Unser Trip endet auf Vancouver Island. Die urigen Küstenregenwälder des Pacific Rim Nationalpark reichen bis zum Strand, dahinter kommt über viele tausend Kilometer nichts, dann irgendwann Japan. Die Wellen des Pazifik haben einen weiten, ungebremsten Weg hinter sich, bringen Treibgut vom anderen Ende der Welt und formen das Antlitz der Küste jeden Tag neu.

An einer Tanke setzen sie uns aus, links McDonalds, rechts die Autobahn, ein schmerzlicheres Bild kann es für Eltern nicht geben. Zügig bepacken wir die Räder. Jede Sekunde zählt, die den Moment verkürzt. Sorgen und Stolz ringen miteinander, gehen die Kinder unklare Wege, fort aus Deutschland, im weiten Bogen um die Norm. Angst und Neugier fechten und streiten, wenn man den Atlas durchkämmt, um den Nachwuchs zu orten. Klatschbasen fragen, wann denn der Spross endlich arbeite. Schütteln und Kopfwaschen will man die Kinder, die man zum Flughafen bringt, statt deren Babys zu schaukeln. Die immerfort reisend Vollmachten hinterlassen, Möbel abstellen. Nach Abenteuern statt Karriere gieren, Geschichten sammeln statt Rentenpunkte. Viel verlangt es von den Eltern, fast schon Schizophrenes: Ziehen lassen und trotzdem begleiten. Ein mitschwingendes Fundament.

Der Abschied wirft uns aus der Bahn, die Nestwärme der letzten Tage fehlt, wie fremde Prothesen kurbeln die Beine. Es sind die Fürsorglichen der Warmshowers-Gemeinschaft, die uns aufheitern mit ihren Storys. Und der schönste Zeltplatz Kanadas. Wir klopfen an bei Tim und Gillian und dürfen auf ihrem privaten Bootsdeck kampieren, mit Robben und Seeottern als Gästen am Zelt. Waren wir im Wohnwagen abgeschottet wie im Panzer, mischen wir uns auf den Rädern wieder unter die Kanadier. Kaum ist die Familie abgereist, steckt uns der Erste 50 Dollar zu, der Zweite Telefonnummer und Anschrift, falls wir Hilfe bräuchten, der Dritte spendiert Kaffee und Nummer Vier, ein amerikanischer Tourist, 40 Dollar. Und jeder Daumen Hoch vorbeiziehender Autofahrer streichelt die heimwehgebeutelte Seele. Frisch motiviert schippern wir mit der Fähre erneut in die USA, der letzte Abschnitt Nordamerikas beginnt.

Der letzte Morgen in Victoria, Kanada.