Kirgistan & Kasachstan
10. Juli – 26. August 2017 | 2.140 km, 17.480 hm
Treppen aus verschlissenen LKW-Reifen, ausrangierte Tischdecken nützen als Sichtschutz für das Plumpsklo, zum Blumengießen taugen verbeulte Wasserkocher. Hier in Zentralasien landet nichts einfach im Müll. „Warum werft ihr neue Möbel weg?“, wundert sich dagegen ein 16-Jähriger Kirgise und zeigt mir einen Youtube-Clip vom Sperrmüll in Deutschland. Inzwischen flicken auch wir Zipp-Beutel, wechseln zwischen nur zwei T-Shirts und tauschen Schrauben gegen Putzlappen mit anderen Langzeitradlern. Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer – all unser Hab und Gut passt in ein paar Radtaschen. Braucht es mehr?
Nur ein Wunsch bleibt offen: das Fahrverbot für alle (!) Kirgisen. Wir plagen uns auf dem Highway von Osh Richtung Norden, wieder zermürben 40° im Schatten, schmeckt die Luft nach Ackerstaub. Auf der rissigen Spur dröhnen Sattelschlepper, drängen Minibusse, Testosteron- und Wodka-gesteuert. Die Straße gleicht einem Raubtiergehege, wo einzig das Recht des Stärkeren gilt. Selbst auf geschotterten Nebenrouten fegen uns die Raser ins Abseits. Nur ein improvisierter Abstand-Halter sichert vermutlich unser Überleben.
Als wir am Abend des 28. Juli vor dem Zelt ruhen, schießt in der Ferne ein grelles Licht empor. Der Feuerball zieht mit langem Schweif rasend schnell am Horizont entlang. 30 Sekunden starren wir ängstlich fasziniert gen Himmel. Sollte das etwa ein Komet sein, der auf die Erde kracht? Das hätten die Amerikaner sicher verhindert. Oder ein Flugzeugabsturz? Später erfahren wir, dass an jenem Abend eine bemannte Rakete vom 1.100 km (!) entfernten Stützpunkt Baikonur zur ISS aufstieg. In hektischer Erwartung des nahen Armageddon habe ich kein Bild zustande gebracht, aber so ungefähr hat es ausgesehen.
Eine Nebenstraße führt über etliche Höhenmeter aus der sommerlichen Hitze hinauf in die sattgrüne Gebirgswelt. 50 Kilometer ätzende Waschbrettpiste, grober Schotter, steile Serpentinen. Gut geschüttelt erreichen wir den Song Kul-See, der wie kaum ein anderer Ort das Klischee kirgisischer Landschaften verkörpert. Ein Meer geschwungener Hügel, rauchende Jurten, grasende Pferde – das ganze Land eine Wiese. Schafe und Kühe mähen durch die Täler, Reiter jagen einander in waghalsigen Manövern und fügen sich dennoch friedlich in dieses Idyll.
Die aus Holz und Filz gefertigten Jurten sind schnell errichtet, äußerst geräumig und trotzen jedem Wetter. Nur während des kurzen Sommers werden die Almen bewirtschaftet, denn schon im September fällt der erste Schnee, dann wird das Vieh in die umliegenden Täler hinab getrieben und das Plateau wieder verlassen sein. Jetzt mästen und melken die Hirten ihre Tiere, stellen Butter und Sahne her und trocknen den Dung zum Heizen im Winter.
Höflicherweise schlucken wir eine Schale Kymys hinunter: gegorene Stutenmilch, die im wesentlichen wie erbrochenes Bier schmeckt. Ähnlich wie Kymys fließt auch der Wodka zu allen Uhrzeiten. Allah nimmt’s wohl gelassener im muslimisch geprägten Kirgisien? Männer hofieren kleine Wohlstandsbäuche, Frauen bestimmen mit und Liebende heiraten ohne vorherige Arrangements ihrer Eltern. Erstmals in Zentralasien ertappen wir uns dabei zu vergessen, außerhalb Europas zu reisen. Noch dazu in einer autokratischen Gesellschaft, wo man Polizisten schmiert und Häftlinge foltert. Die familiären Bindungen sind der zentrale gesellschaftliche Kitt, auch die Älteren hoch geschätzt innerhalb der Familien. „Warum bringt ihr Deutschen eure Eltern in Pflegeheime?“, wirft mir eine junge Kirgisin verständnislos vor.
Zwischen Apfel- und Aprikosenbäumen zelten wir für einige Tage im Garten einer kirgisischen Familie am See Issyk Kul. Wir faulenzen derart, dass sich unser Gastgeber sorgt, wir würden unsere Zeit verschwenden. Endlich leihen wir einen Rucksack, schnüren die Wanderschuhe und machen uns auf in die Postkartenlandschaft des Altyn Arashan. Hoch zu Ross führt der Weg durch unwegsames Gelände, über Bäche und Geröllfelder – harte Arbeit für Pferd und Reiter(hintern).
„Muss dieser Abstecher nach Kasachstan wirklich sein?“, appelliere ich an den Arzt in Daniel, schließlich erwarten wir in der glühenden Steppe 45 °C und eine prekäre Wasserversorgung. Doch der Fotograf in ihm siegt – glücklicherweise! Eine „Kalt“front beschert uns angenehme Temperaturen und sogar Regen am Charyn-Canyon. Gleichnamiger Fluss grub in Jahrmillionen hunderte Meter tiefe Schluchten in die sonst flache Ebene. Wir zelten an deren Rande und sehen uns kaum satt an der spektakulären Aussicht.
Versteckt in den umliegenden Bergen liegt der Kaindy-See. Ein Erdrutsch bildete 1911 einen natürlichen Staudamm, die überschwemmten Fichten ragen noch heute wie Nadelspitzen aus dem türkisblauen Wasser. Das Highlight ist zwar nicht weit entfernt, mit den schweren Reiserädern allerdings kaum erreichbar. Entnervt stoppen wir einen Jeep, angeheuert von Anja und Petra aus Deutschland. Schnell zurrt der Fahrer die Räder auf dem Dach fest und wir sparen uns die tagelange Anfahrt.
Für viele Einheimische ist es kaum vorstellbar, aus eigener Kraft so weit zu reisen. Keiner läuft, jeder besitzt ein Pferd, Moped oder Auto. Entsprechend oft ernten wir ungläubiges Kopfschütteln, vielleicht Bewunderung, in jedem Falle aber Einladungen, Essen und Wasser.
Zurück in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek stelle ich mich einer heiklen Mutprobe: ich muss dringend zum Zahnarzt. Der schmunzelt, als ich ihm mit dem Smartphone-Übersetzer meinen Krater im Backenzahn erkläre. Ich hatte auf einen Kieselstein gebissen, hinterlistig versteckt in einer Aprikose, getrocknet am Straßenrand. Er zeigt mir das Betäubungsmittel aus Deutschland und legt los. Dawei, dawei!
Nach knapp vier Monaten verlassen wir nun Zentralasien und seine faszinierenden Landschaften. Selten zuvor genossen wir es so sehr zu zelten, ob in der freien Natur oder so manchem Obstgarten. Noch mehr jedoch beeindruckten uns die hilfsbereiten, offenen und vor allem geselligen Menschen: entspannte Frohnaturen, völlig entgegen unserer Vorurteile. Lange diskutierten wir mit ihnen über starke Präsidenten, das westliche Demokratieverständnis, Islam und Terrorismus – selten wurde unser Horizont so erweitert. Wir fühlten uns in Sicherheit und herzlich willkommen. Besonders freuten wir uns über praktizierende Muslime als Gastgeber, die uns am großzügigsten verwöhnten. Grotesk, reißt doch die Furcht vor Moslems derzeit eine tiefe, wiederum beängstigende Kluft in die Gesellschaften der westlichen Welt. In unserem Fall bedurfte es dieser Radreise durch Zentralasien, um besser zu verstehen, akzeptieren und unsere Denkmuster zu hinterfragen. Dennoch fühlten wir uns manchmal trotz der weiten Distanz zur Heimat ein Stück weit wie zuhause – dank der Gastfreundschaft und der nachhaltigen Erkenntnis, dass die Gemeinsamkeiten und nicht Unterschiede überwiegen.