China – Kashgar
26. August – 28. September 2017 | 610 km, 6.830 hm
Neun Polizisten führen uns ab, schaffen uns und die Räder mit Blaulicht ins Unbekannte. Es ist Mitternacht und China grüßt uns herzlich willkommen. Obwohl wir im Innenhof einer Familie privat zelten, muss uns jemand verpfiffen haben, vielleicht die Gastgeber selbst. Wir sind hundemüde, aber unsere Nerven gespannt wie Gitarrensaiten. Die Beamten handeln unerbittlich nach stumpfsinnigen Befehlen. Wir müssen alles einpacken, dann karren sie uns stundenlang auf der Suche nach einem Hotel mit Lizenz für Ausländer durch die Nacht, bis sie endlich fündig werden. Zur Strafe spielen wir ihnen einen Streich und behaupten, noch gar keine lokale Währung zu besitzen – bis sie die Hotelkosten entnervt selbst übernehmen um die sperrigen Ausländer endlich loszuwerden. Nicht nur in dieser Nacht lässt uns die chinesische Polizei kopfschüttelnd zurück, doch dazu später mehr …
Zunächst zurück nach Kirgistan. Drei Wochen warten wir in der Hauptstadt Bischkek auf einen ganz besonderen Besuch: Claudias Nabendynamo hat den Dienst eingestellt, ein neuer müsste eingespeicht werden. Eine Aufgabe, die wir unmöglich selbst lösen könnten. Zufällig urlaubt unser Leipziger Radmechaniker Matthias in Kirgistan und meistert die Herausforderung mühelos. Welch ein Service! Zudem empfangen wir überglücklich unsere Zweitpässe mit den Visa für China und Pakistan, die unsere Visaagentur zuvor an die hiesige Deutsche Botschaft geschickt hatte. Es kann also weitergehen!
Von Bischkek aus fahren wir auf der Hinterbank eines LKW bequem die bereits geradelte Strecke zurück in den Süden des Landes. Und dann erwischt es uns: Fieber, Schüttelfrost, Durchfall… wir müssen uns einen Parasiten eingefangen haben. Mit dem neuen Haustier im Darm schleppen wir uns auf dem Rad noch über den letzten Pass. Der Schmarotzer gängelt, es riecht nach Schnee, Eisregen setzt ein. In einer kleinen Unterkunft finden wir Schutz und werden von einem 72-jährigen Weltenbummler mit Storys überladen. Ein Leben um zu reisen, jedes Land der Erde. Keine Familie erwartet ihn zuhause, niemand schmeißt eine Party nach seiner Rückkehr. Wir empfinden Mitleid, ein deutliches Zeichen, dass uns ein solch dauerhaftes Nomadendasein widerstrebt.
Als es aufklart, verblüffen sie uns erneut: die Riesen des Pamir. Am Ende des weiten Graslands ragen seine Siebentausender empor und bilden eine schier unüberwindbare, weiße Mauer, darüber hängen Wolken wie Zuckerwatte. Die Straße nach China führt direkt durch den Schnee der Berge, wir können ihre Gletscher fast streicheln.
So frei wir in Zentralasien reisen durften, so befangen fühlen wir uns bereits an der chinesischen Grenze. Irisscan, Spracherkennung, Ganzkörperröntgen. Sämtliche Daten werden genauestens gecheckt, alle Ausrüstungsgegenstände akribisch kontrolliert – zweimal. Der Grenzübertritt dauert den gesamten Tag. Auch, weil wir auf ein ausreichend großes Taxi warten müssen, das uns die ersten 150 km zur nächsten Stadt eskortiert. Selbst fahren ist verboten, wild zelten sowieso. Selbst kleinere Straßenabzweigungen inmitten der Steppe werden videoüberwacht. Der Teufelskreis schließt sich, weil kaum bis keine Hotels Ausländer beherbergen dürfen. Und nachdem uns die Polizei selbst auf privatem Grund abführte, wissen wir: auch Übernachtungen bei Familien sind tabu. „Wo sollen wir dann schlafen?“, frage ich patzig. Schulterzucken, dumpfe Gesichter. Ohne Ansage von Oben verlieren diese Teenager in Uniform scheinbar ihre Sprache. „This special place“, meint der Chef der Truppe. Und verweist auf eines der rebellischsten Gebiete des Landes, die Provinz Xinjiang.
Wir sind auf dem Weg nach Kashgar und radeln auf besonders heißem Pflaster. Hier leben die Uiguren, ein Turkvolk und die muslimische Minderheit Chinas. Doch auch die Jahrhunderte alte Seidenstraße führt hier hindurch, die Peking derzeit mittels milliardenschweren Investitionen aufleben lässt. Um das Projekt erfolgreich voranzubringen, müssen die Uiguren mit allen Mitteln „auf Linie“ gebracht werden. Niemand kann Unruhestifter gebrauchen, wenn es um sichere Handelswege geht. Han-Chinesen wurden in der Provinz angesiedelt, um zentrale Posten zu übernehmen und die Uiguren zu verdrängen. Letztere erhalten selbst bei gleicher Anstellung weniger Lohn. Die Zentralregierung in Peking schränkte zudem das Fasten an Ramadan ein, verbot den Männern lange Bärte und den Muslima die völlige Verschleierung. Einige wehren sich mit Anschlägen, manche lassen sich von Taliban im benachbarten Pakistan zu Kämpfern ausbilden. Um weitere Gewaltausbrüche zu verhindern, stockte die kommunistische Führung Polizei und Armee massiv auf. An jeder Ecke patrouillieren Grüppchen schwer bewaffneter Halbstarker mit Maschinengewehren und Splitterschutzkleidung. Überwachungskameras spähen überall. Jeder Gemüseladen, Späti und jedes Restaurant muss seine Ladentür mit vergitterten Schleusen verriegeln – Uiguren sperren Uiguren aus.
Seitdem Terroristen mit LKWs in die Menge rasten, sichern Panzersperren alle öffentlichen Gebäude und Bürgersteige. Ein kreischender Alarm scheucht die Einwohner allmorgendlich auf die Straße zu Knüppelübungen. Uiguren trainieren, wie sie ihresgleichen bekämpfen – wir wissen nicht, ob wir in Anbetracht dieses jämmerlichen Bildes lachen oder weinen sollen. Nur schwer kommen wir an Sprit für den Kocher heran, denn selbst Tankstellen sind besser abgeriegelt als Fort Knox. Und als wäre das nicht genug, kurven unzählige Polizeiwagen den ganzen Tag mit heulenden Sirenen im Schritttempo durch die Stadt, um die Leute zu schikanieren und Präsenz zu zeigen. Hier wird eine ganze Bevölkerungsgruppe zu Terroristen degradiert, um die Macht über das wirtschaftlich wichtige Xinjiang zu gewinnen. Ein beispielloser Überwachungsapparat, der uns fassungslos macht. Jeder, der sich in Deutschland – insbesondere nach terroristischen Anschlägen – mehr Polizei und Sicherheitstechnik wünscht, sollte diese Region besuchen, er würde seine Meinung ändern.
2009 rückten Bulldozer an und walzten den Großteil der historischen Altstadt mit ihrem Labyrinth aus Lehmhäusern platt. Über 200.000 Uiguren wurden in schmucklose Betonbauten umgesiedelt, die laut der „besorgten“ Regierung erdbebensicherer seien. Heute schlendern Touristen durch mehr oder weniger authentisch nachgebaute „Show“-Gassen, kaum verwinkelt, sondern auffällig breit gezogen – so können Kameras und Polizisten effizienter arbeiten. Auf Pekings Zwangsmodernisierung folgte heftige internationale Kritik. Allerdings machen die wenigen erhaltenen Lehmhütten einen erbärmlich-zerfallenen Eindruck. Der Abriss der Altstadt war zweifelsohne ein Frevel, der Umzug in moderne Wohnungen brachte aber sicher auch eine Verbesserung der Lebensqualität?
Da wir nicht bei Einheimischen übernachten dürfen und sowohl die uigurische als auch chinesische Sprache unüberwindbaren Barrieren gleichen, erfahren wir nur oberflächlichen Kontakt zu den Uiguren. Was die Menschen über all die Entwicklungen in ihrer Stadt denken, bleibt somit ärgerlicherweise offen. Auch den Draht zur Außenwelt reguliert und blockiert Peking. Um Google, Whatsapp und Facebook zu nutzen, haben wir uns bereits in Kirgistan eine VPN-App installiert und umgehen so die Zensur mittels ausländischer Serverstandorte. Dennoch verschlüsseln wir erste Blog-Entwürfe und achten darauf, nicht gerade an heiklen Orten zu fotografieren.
„Ich bin TOUrist, kein TERRORist!“, wettert Daniel, als wir einige Tage später China in Richtung Pakistan verlassen. Feuerzeuge, Taschenmesser und scharfe Werkzeuge müssen wir abgeben. Eine Logik, die wir wohl nie durchschauen, schließlich reisen wir aus und nicht ein. Fein säuberlich aufgereiht und von schwer bewaffneten Beamten flankiert besteigen wir den Eskortbus. Einmal mehr nimmt es den gesamten Tag in Anspruch, die chinesische Grenze zu passieren. Selbst die Pakistani spotten über so ein närrisches Prozedere. Als wir endlich ihr Land erreichen, rufen sie: „Welcome to Pakistan, welcome to freedom!“ Willkommen im freien Pakistan? Guter Witz. Erst müssen wir lachen – bis wir realisieren, wie recht sie doch haben.