Indien
08. September – 01. Oktober 2013
Unsere Reise beginnt auf Umwegen: der Flieger hat Verspätung, wir verpassen den Anschluss in Doha, der Hauptstadt Quatars, und müssen „notgedrungen“ in einem Luxushotel des Ölstaats übernachten. Wir sind fassungslos in Anbetracht der Energieverschwendung: heiße Wüstenwinde und Backofenluft kontrastieren mit Eislaufbahnen und gekühlten Flaniermeilen, in Hotels tragen wir rasch einen wärmenden Pulli. Die ganze Stadt, ihre futuristische Skyline, erscheint uns wie ein Fremdkörper, deplatziert und dekadent – nein, ganz sicher nicht unser Fall.
Wir landen in Mumbai, ich erwarte einen Highway vom Flughafen zur Innenstadt, oder wenigstens Schilder, vergeblich. Die nächtliche Fahrt gerät zur Odyssee über holprige Pisten, vorbei an Slums, nach endlosen Runden finden wir schließlich die richtige Adresse, wo uns Jochen und seine Frau herzlich empfangen.
Geführt von einem NGO-Mitarbeiter besuchen wir Dharavi, wohl einen der größten Slums Asiens. Hier leben ca. 1 Million Menschen auf knapp 2km2, nur Legehennen haben weniger Platz. Die Grenzen zum „normalen“ Stadtgebiet Mumbais verlaufen fließend, die Gassen werden enger, die Häuser niedriger, die Luft stickiger. Ich bin geschockt ob der Lebensbedingungen, auch Claudia wird ganz still. Der allgegenwärtige Müll lockt Hunde, Krähen und Ratten, dazwischen Kühe, Ziegen, Menschen. Überall der Geruch von Verwesung, je nach Windrichtung unterschiedlich gefärbt, wir kämpfen gegen unseren Brechreiz. Hier verdient das Trittoir noch seinen Namen, Abwasser mäandriert zwischen Wellblechhütten, vermischt sich mit Fäkalien jedweder Spezies, um schließlich müllbeladen ins Meer zu fließen. In einem Recyclinghof kochen Jugendliche Aluminiumschrott, der Rauch treibt uns Tränen in die Augen, unser Guide mahnt zur schnellen Passage. Einige Jungs schweißen ungeschützt selbstentworfene Häcksler für Plastikmüll, manche sind schon erblindet. Dazwischen spielen Kinder Cricket. Wir passieren eine Gerberei, Ziegen knabbern an den siffenden Fellen ihrer toten Artgenossen – ich versuche, durch die Ohren ein- und Nase auszuatmen und muss an “Das Parfüm” denken.
Überraschend wird klar: indische Slums sind kein Obdach bettelnder Almosenempfänger – wer hier lebt, fährt Tuk Tuk oder putzt, arbeitet im Straßenbau oder als Polizist, manch einer pendelt gar täglich aus den Vorstädten. Dharavi ist eine Stadt-in-der-Stadt, mit Frisör und Fitness-Studio, Bäcker und Barbier, sogar medizinischer Versorgung und rudimentärer Rechtsordnung. Nur Pizza Hut liefert nicht mehr, um das 30-Minuten-Versprechen halten zu können. Wer hier lebt, kann nicht ganz arm sein, sondern kämpft mit horrenden Mieten – ein Eigenheim in besserer Lage kostet bis zu Eintausend Euro pro Quadratmeter! In Anbetracht der explodierenden Bevölkerungszahlen ist Wohnplatz rar und heiß begehrt, der Slum ein riesiger Recyclinghof mit einem geschätzten Jahresumsatz von 650 Mio. Euro. So ist Dharavi nach wie vor ein Anziehungspunkt zahlloser Glücksuchender, ein Ergebnis der Landflucht – allein Mumbai schluckt täglich Tausend Neuankömmlinge.
“Das blöde Kamel will mich absichtlich ärgern!”, schreit Daniel wütend, als sein Dromedar den Weg direkt durch den Dornenbusch wählt. Auf unseren „Wüstenschiffen“ schaukeln wir zusammen mit indischem Guide über die Sanddünen und Graslandschaften der Thar. Für zwei Tage und Nächte dürfen wir uns in ihrer Ruhe, hitzigen Schönheit und Weite endlich wohlfühlen. Innere Rast finden von dem städtischen Chaos Indiens. Die „Große Wüste“ ist Lebensraum für unzählige Echsen, fliegende Skarabäen, Gazellen, Raubvögel, Kühe der Nomadenvölker. Die Regenzeit liegt nur etwas mehr als einen Monat zurück, sodass sich die sonst karge Savannenvegetation in üppigem Grün zeigt. Wir reiten nie mehr als eine Stunde, Dromedartouren stellen sich als schmerzhafter für die Beine heraus als gedacht. Unser Guide beantwortet uns im typischen Hindi-Englisch alle Fragen zur Wüstenlandschaft, weiht uns in das Geheimnis der Chai-Zubereitung ein, bekocht uns am Feuer. Wir schlafen inmitten bizarr wellenförmiger Dünen unter dem Sternenhimmel – für mich ein einzigartiges Funkeln, Daniel dagegen ist aus Fotogründen enttäuscht (irgendwie stimmt mit dem Mond etwas nicht…). Die Kühle der Nachtluft wirkt heilsam, bringt doch die Hitze des Tages unser Blut schier zum Kochen.
Bei flimmernder Hitze und knappem Wasservorrat ist an Körperpflege über das Zähneputzen hinaus nicht zu denken, der Dromedarführer verzichtet bis auf ein „Bad“ in einer schlammigen Viehwasserstelle völlig. Zurück in Jaisalmer befreien wir uns vom Wüstensand, waschen Schweiß- und Dromedargeruch von uns ab. Die neugewonnene Ruhe, der erste atemberaubende Natureindruck allerdings bleibt und verhilft uns, Indien in unser Herz zu schließen.
Bei Bikaner erwartet uns ein besonderer Leckerbissen der indischen Kultur, der Rattentempel von Deshnok. Mehr als 20.000 der Nager werden als heilig verehrt, gehegt und gepflegt. Wir waten durch Ratten- und Taubenmist, Müll und allerlei Ungeziefer – barfuß, sonst wird‘s unrein. Drinnen ertrinken die Ratten in Süßigkeiten und Kokosmilch, draußen betteln die Kinder. Claudia flucht.
Die Wüstenstädte Rajasthans, vorrangig ihre Stille und angenehme Wärme im Morgengrauen, verhelfen mir nach und nach zu mehr Sicherheit und Wohlgefühl. Ich überwinde allmählich den Kulturschock und freue mich, endlich gelassener Indien zu erkunden. Erstaunlich cool machen Daniel und ich uns auf nach Neu Delhi – wir benötigen noch das Visum für die Einreise in Myanmar im November. Delhi zeigt sich überraschend „reinlich“, das Gandhi-Museum, der Ort seiner Kremation sowie der Lodhi-Park stellen sich als zumindest menschen„ärmere“ Orte heraus, die wir zu genießen wissen. Selbst der unüberschaubare Tumult des Basars, der unser Hotel umgibt, bringt uns nicht mehr allzu sehr aus dem gefundenen Gleichgewicht.
Mein schöner Plan, das Taj Mahal im weichen Licht des Sonnenaufgangs zu fotografieren, wird vom späten Monsun durchkreuzt: es schüttet die ganze Nacht wie aus Eimern; Wiesen und Wege rund um das wohl „schönste Gebäude“ sind überflutet. Ein indischer Maharatscha erbaute es für seine verstorbene Frau. Ein schöner Liebesbeweis – mal sehen, wie sich Claudia weiterhin führt …
Für einen gläubigen Hindu ist es das größte Glück, hier beigesetzt zu werden, am Abend lodern die Flammen zahlreicher Scheiterhaufen. Kinder, Schwangere und Leprakranke werden direkt im Fluss bestattet; so schluckt die „Heilige Mutter Ganges“ täglich viele Tonnen Abwasser, Müll, Leichen und Kadaver, der Anblick mancher Szenen erscheint grotesk.
Wir haben uns an vieles in Indien gewöhnt, uns mit dem Land angefreundet, könnten Stunden hier sitzen und das bunte Treiben beobachten. Doch bald geht es nach Nepal, in die Einsamkeit der Berge. Viele sagen, Indien würde man entweder hassen oder lieben, dazwischen gäbe es nichts. Bestätigen können wir dies nicht – wir verlassen das Land mit Hassliebe …